Gesang der Dünen
Claus Friede
Das Werk der französischen Künstlerin Océane Moussé wirkt auf den ersten Blick filigran, fein und präzise. Auf weißen, unterschiedlich großen Papierbögen zeichnet sie akribisch kleine Tuschefäden und Schraffuren, die sich zu räumlichen Strukturen, Körpern, Architekturen und Landschaften mit Hügeln und Senken zusammenfügen. Schließlich wird daraus ein Bild oder eine Bildserie. Auffällig sind die entleerten Räume. Als ob eine Reduktion und Reinigung stattgefunden hätte, sind die Bildmotive auf das Wesentliche begrenzt. Eine Horizontlinie verdickt sich im Bildmittelgrund, der Himmel ist eine
weiße, unbearbeitete Fläche. Keine Wolke, keine Sonne, kein Vogel und kein Flugzeug sind zu sehen. Der hügelige Raum darunter ist mit Rasen oder Wiese überzogen.Aus Erdspalten klettern Menschen mit Gepäck, Taschen und Rucksäcken: Sie „sprießen“ regelrecht aus der Wiese und ziehen in einer langen, unendlich scheinenden Karawane ins Nichts. „Les Migrants“ (2011) – so der Titel der Serie – sind auf dem Weg irgendwohin.Menschenströme sind auch auf einer anderen Bildserie zu sehen, die mit „Les Touristes“ (2010-2011) betitelt ist. Sie erklimmen einen Hochstand, wie es sie früher an der Berliner Mauer gab, und schauen – ins Nichts. Die Künstlerin bietet uns Betrachtern einen in die Weite schweifenden Blick, eine scheinbar unendliche Weite, aber nichts Sichtbares, auf das es sich zu starren lohne. In unseren Fokus rücken im Bild die Beobachter (Touristen) selbst, und wir wundern uns, woher sie kommen und wohin sie gehen, sie verschwinden einfach wieder im Boden.Oder der Freizeitmensch steht geduldig in einer langen Reihe an und wartet darauf, einmal mit einem Kettenkarussell fahren zu können, um aus demselben irgendwann wieder herausgeschleudert zu werden wie bei „Saturne“ (2012).Überhaupt ist die 360°-Drehbewegung offensichtlich von zentraler Bedeutung. Es gibt eine Bildserie, namens „1
M2“ (2009), die aus einem Triptychon besteht und dem Betrachter alsbald durch die drei verschiedenen Aufhängungsmöglichkeiten verdeutlicht, dass sie eine unendliche, kreisförmige Geschichte erzählt. Distanziert durch eine angedeutete, halbhochgezogene Jalousie im Vordergrund, schauen wir durch verschiedene Fenster in eine Landschaft mit unterschiedlich hohen Kegelbergen, die erloschene Vulkane suggerieren. Menschen mit Rasenmähern weißen die Zeichenspuren, sie radieren das Bild an einigen Stellen quasi wieder aus. Die Vergänglichkeit der Szenerie und der Augenblick des Konstrukts sind die bedeutsamen Verweise auf zyklische Existenz per se und auf die Veränderlichkeit jedweden Daseins und Zustands. Dieser Fokus liegt auch auf dem Bild „Dans le regard d’acier, l’horizon“ (2011). Hier sind es eine Reihe von Mähdreschern, die die Motivik vermeintlich negieren, auslöschen und zurückführen in einen jungfräulichen Urzustand: das weiße, unberührte Blatt Papier.Eine weitere Drehbewegung konstituiert sich in der Arbeit „ediejnesaH“ (2013), nur diesmal horizontal. Sie zeigt eine Wiesenfläche und am unteren Bildrand Sitzbänke und eine Ansammlung von Bäumen – auf dem Kopf. Hier geht es nicht um eine Adaptation von Baselitz-Bildern oder die Irritation der Sehgewohnheit, sondern um den eingefrorenen Zeitpunkt einer 360°-Bewegung. Der kindliche Begriff Purzelbaum für eine Rolle vorwärts oder rückwärts beschreibt den Augenblick sehr passend: „Sturz und Aufbäumen“. Das Bild zeigt also jenen Moment während eines Purzelbaums, in dem die Welt kopfüber steht.„Porteurs de paysage, Mont Calvo“ (2011) ist eine der ungewöhnlichsten Zeichnungen der Künstlerin. Eine Hügelkette wird von Menschen getragen. Wie einzelne Atlasfiguren der Mythologie stemmen unzählige Frauen und Männer die Landschaft in die Höhe. Welche Energieströme diesen Hebekraftakt mit der Materie verbinden, zeigt sich nicht nur in der Anschauung, sondern auch in der Vorstellung: Diese Landschaft ist versetzbar, „rekomponierbar“, ihr taxonomischer Rang ist der menschlichen Macht untergeordnet. Das Werk zeigt allegorisch unsere Auffassung wie wir mit Natur, Landschaft und unserer Umwelt umgehen. In dem wir alles nach unseren (unnatürlichen) Standards verändern, folgen wir nach Moussé lediglich nachgeahmten Mustern. Die Personen tun alle das gleiche, mit den gleichen Gesten und Utensilien. Sie sind aber alle eigentlich Fremde, lediglich Besucher, weil die Künstlerin sie in einem Stadium der Durchreise zeigt.
All diese Zeichnungen und Zyklen der Künstlerin definieren eine zeitliche und räumliche Entgrenzung und in gleicher Weise eine Entschleunigung. Dadurch verlieren sie jedoch nichts an thematischer Brisanz, denn nicht nur die Titel verraten es, sondern insbesondere die Machart: Océane Moussé beschäftigt sich inhaltlich mit dem Zeitphänomen von Wanderungen und zyklischen Systemen. Zwar tut sie dies mit einer gehörigen Portion an darstellerischer Poesie, in uns Betrachtern entsteht aber immer auch ein leichtes Unbehagen, denn wir fragen uns, warum in einem derartig weiten Raum, die humane Spezies sich so geballt an einem Ort aufhält. Wir fragen uns welcher Logik die Menschen folgen, woher die Massen kommen und wohin sie entschwinden. Es gibt keine Antwort darauf. Wir sind aber nur scheinbar distanzierte Betrachter, die keine ausreichenden Informationen von der Künstlerin erhalten, und merken bald, dass die widerständige Oberfläche uns nur kurzfristig darin unterstützt, nicht selbst in unsere Phantasien eintauchen zu müssen. Wir sind aufgefordert, unser Handeln zu reflektieren: Wir sind Begleiter des Systems und werden schließlich gewahr, dass nichts unschuldig, unwissend oder fügsam ist.
„Sturz und Aufbäumen“ steht also symptomatisch für das Werk von Océane Moussé. Die Systemkritik ist in den Werken immanent spürbar und der leichte Strich der Zeichnung ist in Wahrheit die Idee von Flüchtigkeit – in mehrdeutigem Sinn.
Claus Friede